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Lorchel Vergiftung01
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Lorchel-(Morchel-)Vergiftung.

Bericht von R. Bernstein, Erfurt

Am 4. Mai 1912 gegen 3 Uhr morgens trat bei einer etwa 36jährigen, vorher stets gesunden Frau X. plötzlich starkes Erbrechen auf; das Erbrochene enthielt große Stücke „Morcheln“. Etwa 8 Stunden vorher hatte das Ehepaar X. ein Gericht „Morcheln“ gegessen, die „Morcheln“ – richtiger Lorcheln (Helvella esculenta) – waren am Vormittag in frischen Zustand auf dem Markt in Allenstein (Ostpreußen) gekauft und am Abend ohne Wasserzusatz „im eigenen Saft“ mit Zusatz von Butter gekocht worden. Von dem Gericht hatten beide Beteiligte etwa gleich viel genossen – Frau X. hatte jedoch außerdem die Tunke ausgelöffelt. Bis zum Schlafengehen, gegen Mitternacht, hatte sie sich wohlgefühlt.

Das Erbrechen wiederholte sich bei Frau X. nachts und vormittags mehrmals, es kam auch zu reichlicher Stuhlentleerung; durch eine Magenspülung wurden schließlich die letzten Pilze aus dem Magen entfernt. Der Stuhl enthielt am 4. Mai und auch noch am 5. Mai Pilzteile. Ebenso lange hielt das Erbrechen schleimig-galliger Massen an, ohne dass Nahrung aufgenommen wurde. Am 4. und 5. Mai traten anfallsweise Schmerzen im ganzen Unterleib auf. Bei klarem Bewusstsein bestand große Mattigkeit und Übelkeit; der Puls war gut, der Harn regelrecht.

Am Abend des 5. Mais zeigte sich Singultus (Schlucken). Nachts wurde die Kranke unruhiger, bald erregt, bald deprimiert; am 6. Mai war sie matt und teilnahmslos.

Am Nachmittag des 6. Mai, also etwa 45 Stunden nach der Aufnahme des Giftes, trat leichte Gelbfärbung der Skleren auf. Der bis dahin täglich dreimal untersuchte Harn war stets in Ordnung.

Am 7. Mai besserte sich der Allgemeinzustand allmählich. Der Ikterus ging auf den Körper über und hielt bis zum 12. Mai an. Der Harn war am 7. und 8. Mai dunkel, gab zweimal eine positive Blutreaktion mit Kalilauge, aber nie positive Gallenfarbstoffreaktionen. Auch spektroskopisch war der Harn regelrecht, Eiweiß war nur in Spuren nachweisbar, im Sediment fanden sich einmal Bruchstücke von Zylindern. – Das Bewusstsein wurde vom 8. Mai ab rasch klar, die Stimmung besser. Die Erinnerung für die ersten drei Tage fehlte jedoch am 9. Mai fast vollkommen. Wiederholt wurde über Kopfschmerzen, Gesichtsschmerzen, Schmerzen in den Unterbauchgegenden geklagt. Mehrmals erfolgte Nasenbluten.

Am 10. Mai fiel zum ersten Male eine mäßige Pulsverlangsamung (50-55) und eine Trockenheit der Haut mit Schuppenbildung auf.

Mit dem 12. Mai begann die rasch fortschreitende Genesung.

Die Behandlung war, außer der einmaligen, etwas verspäteten Magenspülung, hauptsächlich symptomatisch; am 2. Tage der Vergiftung wurden mehrere Stunden lang Kochsalzeinträufelungen in den Mastdarm vorgenommen.

Irgendwelche Resterscheinungen sind nicht zurückgeblieben, Nachkrankheiten nicht aufgetreten.

Dass es sich um eine Pilzvergiftung gehandelt hat, ist nicht zu bezweifeln. Wenn nur die Ehefrau, nicht der Ehemann erkrankte, so lag dies nicht (wie zuerst vermutet wurde) daran, dass letzterer in den Stunden nach der Mahlzeit einige Mengen alkoholischer Flüssigkeit zu sich genommen hatte, die als Gegengift gewirkt hätte, sondern wohl sicher daran, dass er nichts von der Tunke genossen hatte, in der sich der Giftstoff (Helvellasäure) gelöst und angesammelt haben muss. Die alte Regel, man solle das Wasser wegschütten, in dem man Pilze gekocht hat, gilt auch für das Wasser, das nicht zum Zwecke des Kochens hinzugesetzt wird, sondern aus den Pilzen beim Kochen heraustritt; denn auch in diesem Wasser lösen sich die etwa in den Pilzen vorhandenen Giftstoffe. Durch das mitgekochte Fett ist jedenfalls die Helvellasäure nicht zerstört worden – entgegen der Annahme in dem bekannten Atlas „Pilze der Heimat“ von Eugen Gramberg (Leipzig, Verlag von Quelle und Meyer, 1913).

Quelle: Berstein, R.: Lorchel-(Morchel-)Vergiftung, Sammlung von Vergiftungsfällen, Band 1 (1930), A 52, S. 117 - 118

Anmerkung: Bei dem genannten Pilz Helvella esculenta handelt es sich um den sehr gefährlichen Pilz Gyromitra esculenta.

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Stand: 29. Oktober 2007

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